Poetry ohne Slam – Anna Teufel

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So 10.05.2020 | 23:00

Poetry ohne Slam – Anna Teufel

Sie und Ich

Von Anna Teufel:
Sie und Ich

Die Frau sitzt Marie in der Bahn gegenüber und sieht aus wie eine Frau, die sich tagsüber wünscht, dass ihr auf der Straße hinterher gepfiffen wird. Sie sieht auch aus wie eine Frau, die weiß, dass das nicht so oft passiert. Sie entspricht nicht den gesellschaftlichen Vorstellungen von Hübschsein und ist trotzdem schön. Ihre Haare sind lockig und zu einem mahnend nach oben zeigenden Dutt gebunden, ihre Ohrringe berühren ihre Schultern, wenn sie den Kopf bewegt und ihre Absätze sind um die zwölf Zentimeter hoch, und das, obwohl draußen noch Schnee liegt.

Sie sieht aus wie eine Frau, die schnell friert, wie eine Frau, die hastig die Wohnungstür aufschließt, die Schuhe abstreift und dann vollständig angezogen auf die Couch sinkt, wahrscheinlich wartet dort eine Katze auf sie, sie wird Momo heißen und ist ein großer schwarzer Kater mit knallgelben Augen, der sonst ein wirklich, wirklich miesepetriges Arschloch ist, aber wenn sie nach Hause kommt, dann schmust er gern.

Sie sieht aus wie eine Frau, die den Winter nicht mag und auch unter der Woche Cocktails trinken geht, ihr Lieblingscocktail wird ein Mai Tai sein, und sie raucht bestimmt gerne starke Zigaretten, aber Selbstgedrehte mag sie nicht, dafür ist sie zu ungeduldig.

Die Frau sitzt Marie gegenüber in der Bahn und sie schweigt; ihre Fingerspitzen drehen sich um sich selbst, sie bewegt ab und zu ruckartig den Kopf, sie wirkt angespannt. Ab und zu streift ihr Blick Marie, dann schaut sie schnell wieder weg und ihre Ohrringe klimpern. Offensichtlich fühlt sie sich beobachtet und das tut Marie leid; sie möchte niemandem ein ungutes Gefühl geben, aber diese Frau entspricht nicht den gesellschaftlichen Vorstellungen von Hübschsein und ist trotzdem schön, sie möchte einfach nicht wegsehen.

Die Frau Bärbel gegenüber in der Bahn sieht aus wie eine Frau, die gerne Smoothies zum Frühstück aus Einmachgläsern trinkt und sie jeden Tag fotografiert und auf Instagram hochlädt. Ihre Haare sind offen und glatt wie Papier und glänzen, obwohl es draußen regnet und ihre Augen wirken groß und ein klitzekleines bisschen traurig, aber das haben große Augen bestimmt so an sich.

Sie sieht aus wie eine Frau mit einem gut bürgerlichen Job und einem Einkommen von ungefähr dreitausend Netto, wahrscheinlich verkauft sie irgendwas oder ist Optikerin, nein, sie schminkt Leute und ihr gelingt es auch, sich die Haare zu glätten, ohne sich dabei versehentlich die Ohren zu verbrennen, sie hört wahrscheinlich Hip Hop und dreht zuhause den Bass voll auf, das wird es sein.

Bärbel ist traurig und Bärbel ist wütend, Bärbels Herz tut weh vor Neid, und sie weiß nicht, ob es vielleicht nicht doch Eifersucht ist und sie fühlt sich schuldig deswegen. Es ist jetzt sechs Jahre her, seit ihre Bilder auf der Homepage der Agentur online gegangen sind, da steht sie, Bärbel, in transparenter Unterwäsche in einem unbezahlbaren Hotelzimmer an der Wand oder räkelt sich auf den teuren weißen Laken oder schlürft lasziv einen Champagner, dessen Namen sie schon wieder vergessen hat, wobei es auf dem Bild eigentlich nur Eistee war, aber das sieht man ja nicht, und 32 % ihres Honorars bekommt ihre Agentin, die mit den Männern im Voraus Kontakt hält und im Nachhinein nachfragt, wie das Date denn so war, und sie kann sich nicht helfen, dass sie es genießt, die Tatsache genießt, dass gutaussehende und freundliche und reiche Männer dazu bereit sind, 700 Euro für vier Stunden mit ihr zu bezahlen, und sie ein einziges Overnight braucht, um für zwei Wochen in den Urlaub fahren zu können, doch jedes Mal danach sitzt sie mit ihrer Handtasche in der Bahn, sie duftet ein wenig nach ihrem eigenen teuren Parfum, das sie nur für diesen Zweck trägt, und viel stärker noch nach dem Aftershave eines fremden Mannes, den sie nur wiedersieht, wenn er wieder sehr viel Geld ausgibt und jedes Mal hat sie das Gefühl, man würde es sehen, jedes Mal hat sie das Gefühl, man würde es sehen, die Frau ihr gegenüber sieht es, davon ist sie überzeugt, dieses Influencer-Model ihr gegenüber in der Bahn trifft mit ihren Gedanken voll in das Schwarz ihrer Schuhe und es graut ihr vor dem Heimweg, weil ihre Füße schmerzen, und zuhause wird sie wie immer das Gesicht sorgfältig mit Abschminktüchern abreiben und dann ihre Hamsterdame Hilda aus dem Käfig nehmen und sie sich auf den Bauch setzen und mit ihr sprechen, und Hilda wird wie immer nur ein klitzekleines bisschen Zuneigung erwarten und ihr irgendwann auf die Hand pinkeln und dann wieder zurück in ihr Hamsterrad wollen, wie immer.

Die Frau ihr gegenüber in der Bahn ist nervös, das sieht Marie. Sie hat ein schlechtes Gewissen, sie wollte nicht starren, sie wollte nur ihr Gesicht in Erinnerung bewahren, da sie so etwas nicht oft sieht. Sie hat allgemein nicht so viel mit anderen Frauen zu tun, Standard als Frau in einer Männerdomäne, sie ist das eine Prozent Frauenquote in ihrer Schreinerei und sie liebt den Staub im Gesicht und den Schmutz in den Poren und manchmal, selten, passieren Abende wie heute, an denen sie sich schminkt und in die Stadt geht in irgendeine hippe Lounge mit blauen und roten Lichtern, sich in einen Sessel setzt zum Lesen und einen Grey Goose Martini trinkt, liest, die Oliven isst und geht, sie fühlt sich magisch an solchen Abenden, fühlt sich weiblich, fühlt sich schön, trägt schöne Unterwäsche und hat ein Date mit sich selbst, an Abenden wie heute –

Die Frau ihr gegenüber erhebt sich und schwankt ein wenig auf ihren viel zu hohen Absätzen, die sie anscheinend bereits seit einigen Stunden trägt. Marie streckt reflexartig die Hand nach oben, um Bärbel zu helfen, doch die starrt nur auf die Tür und betet, bitte, bitte, mach, dass die Tür schnell aufgeht, ich möchte nur nach Hause und zuallererst hier raus und weg von den Blicken, und dann dreht sie sich noch einmal kurz um, denn sie spürt noch die Augen der fremden hübschen Frau in ihrem Rücken, und sie möchte dieser Frau einen sehr, sehr gemeinen Blick entgegenwerfen, doch die Frau kommt ihr zuvor und lächelt, sie blinzelt einmal kurz mit beiden Augen und in diesem Moment passieren Dinge, weil sich zwei Augenpaare treffen, vier Augen von beiderseits unzähligen Wimpern umrahmt, manche falsch, manche echt, zwischen leichten Ansätzen von Falten und verklumptem Make-up und nach stundenlangem Tragen immer noch intaktem Lidstrich stehen die Tore zur Welt offen, zwei davon blau, mit einem kleinen brauen Fleck in der Mitte und die Pupille umrahmt von goldenen Sprenkeln, zwei davon braun mit einem unregelmäßigen Übergang zum Bernstein in der Mitte, und hinter diesen Augen stehen zwei Menschen, zwei Frauen, zwei Leben, zwei Gedanken, zwei Sekunden, zwei Sekunden Licht, zwei Sekunden Energie, zwei Sekunden Klarheit, zwei Sekunden Gewissheit –

dass Menschen Menschen sind.

Die Bahn hält, die Tür öffnet sich. Bärbel blinzelt, dreht sich um und steigt aus.

Text von Anna Teufel