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Fr 01.05.2020 12:00Poetry ohne Slam - Max Osswald


Die Wolke


Von Max Osswald:

 

Die Wolke

 

Eine Sommerbrise streichelt mein Gesicht, die Schwärze des Nachthimmels schluckt das Licht und meine Hoffnung wie ein gieriges Kind; ich liege auf dem noch warmen Bordstein, warte auf den Bus und starre die Sterne an. Ich frage mich, was der ganze Scheiß hier eigentlich soll und stelle fest, dass ich mich vom Bordstein im Wesentlichen nur dadurch unterscheide, dass ich eine Steuererklärung abgebe. Beide sind wir nur gespeicherte Energie in irgendeiner Form, ein kosmischer Furz, und im Großen und Ganzen völlig irrelevant. Ich liege da, denke daran, wie ich mich über Nichtigkeiten wie irgendwelche Verspätungen aufrege und frage mich, wann ich mir selbst ins Hirn geschissen habe.

Ich grüble und grüble und dann, völlig unvermittelt, schleicht sich das blähende Gefühl ein, das Leben verpasst und verlernt zu haben; ich lebe es nicht, ich verwalte es nur. Ich bekomme das sichere Gefühl, dass bald alles vorbei ist und taufe es Endzeitstimmung. Das klingt wiederum so bescheuert, dass ich mich frage, wie ich das meinem 5-jährigen Ich erklären würde.

Ich würde mich erst mal lange planlos am Kopf kratzen und dann stammeln: „Joa, das ist, wie wenn dein Leben ein Film wär, und du dir sicher bist, dass er bald zu Ende ist.“
„Das ist komisch. Wo kommt das her?“, würde es antworten.
„Hm. Weißt du, ich hab da so eine schwarze Wolke über meinem Kopf, die macht alles ganz düster, es regnet immer und hört nie auf.“
„Die hab ich noch nie gesehen.“
„Mhm. Wart mal noch paar Jahre.“

„Hi Leute, na, was geht?“, fragt die Wolke mit müden Augen.
„Wir reden übers Sterben.“
„Ach, cool, das freut mich. Wobei, eigentlich ist es mir egal. Alles ist egal“, stöhnt sie.
„Warum bist du denn so ein Miesepeter?“
„Warum, fragst du? Hat dich noch niemand darauf hingewiesen, wie sinnlos das Leben ist, kleiner Mann? Kann ich gerne nachholen.“

Die Wolke schwebt über ihn, lässt es strömend regnen und sagt:
„Statistisch gesehen bist du in 75 Jahren tot. Aber halt, du wirst Künstler, du kriegst sowieso psychische Probleme und bist früher dran, haha! Wer sich im Job ständig für das absolute Minimum an Leistung beklatschen lassen muss, ist definitiv nicht ganz knusper. Kein Postbote wirft einen Brief ein, stellt sich breitbeinig hin und sagt: ‚SO SCHAUET, EIN BRIEF! ICH LIEFERTE IHN AUS, ICH, MIT MEINEN BLOSSEN HÄNDEN, SO HULDIGT MIR!‘ Aber der macht ja auch nicht Poetry Slam.

Aber keine Angst, auch das wird irgendwann unspektakulär, genau wie alles andere im Leben. Noch freust du dich auf Weihnachten, aber schon bald wirst du merken, dass das kein stilles Wasser ist, woran Papa da immer nippt, wenn er müde aussieht, und es hat einen Grund, wieso du die Kekse, die er backt, nie essen darfst. Und deine Oma lässt dich im Memory nicht gewinnen, nein, die wird dement! Ah, und den Weihnachtsmann gibt es nicht; der, der da im Kindergarten war und so komisch gerochen hat, wurde vom Arbeitsamt da hingeschickt.

Mach dir nichts draus, die einzigen Konstanten im Leben sind Enttäuschungen, haha. Enttäuschungen und Paketboten, die ‚niemanden antrafen‘, obwohl man zu Hause war! Wahrscheinlich, weil sie nie beklatscht werden. Du wirst mal denken, am Ende wird immer alles gut – haha, du Dummerchen! Aber du wirst auch mal denken, dass es eine gute Idee ist, BWL zu studieren. Weil du bescheuert bist! So bescheuert wie alle Menschen. Manche von denen benutzen sogar Trockner! Etwas, das Geld kostet und Energie verbraucht für eine Tätigkeit, die die LUFT erledigt – umsonst! Andere sagen ‚Wirsing‘ statt ‚Wiedersehen‘ und ‚Merci Bockwurst‘ statt ‚Merci Beaucoup‘ und finden das lustig!

Ah – und viele Menschen küssen schlecht. Manche machen sogar den Propeller. Oder das Kätzchen. Du wirst dich sehr selten verlieben, aber wenn, dann richtig – und dann wirst du verlassen, haha, jedes Mal! Du fragst: ‚Was ist los?‘ Sie sagt: ‚Nichts.‘ Zack, zwei Wochen später bist du single.“

Ich kichere fatalistisch, da schwebt sie zu mir und ich werde nass.
„Lach nicht so dumm, du hast deine Träume längst gegen einen Job getauscht.“
„Aber ich hab doch gekündigt.“
„Üüüüääääh“, stöhnt die Wolke, „ich will schlafen.“

Mein 5-jähriges Ich wuschelt sich die Locken trocken und dreht sich zu mir:
„Warum ist sie hier?“
„Keine Ahnung. Sie geht nicht mehr weg und es regnet immer weiter.“
„Dann muss sie halt einfach mal alles rauslassen, dann ist sie leer.“
„Das klappt leider nicht immer.“
„Dann puste!“
„Pusten?“
„Ja, pusten! Ganz arg pusten, dann löst sie sich auf oder fliegt weg und die Sonne scheint wieder.“
„So doll kann ich nicht pusten.“
„Dann frag doch einfach andere, ob sie dir beim Pusten helfen können! Alleine ist alles schwieriger.“
„Naja, ich weiß nicht, ob das klappt.“
„Ja, siehst du, du weißt es nicht! Also probier's doch!“
„Das ist leichter gesagt als getan.“
„Aber es ist auch leichter abgetan als einfach versucht.“
„Kleiner Klugscheißer.“
„Los, wir pusten jetzt! Auf drei! Eins, zwei, drei!“

Ich wache auf, es nieselt. Der Bus kommt, ich stehe auf, steige ein und werde für kurze Zeit nicht nass. Aber vielleicht geht es gar nicht darum, nicht nass zu werden, sondern darum, sich dabei nicht zu erkälten. Auch wenn es bewölkt ist und regnet, existiert die Sonne weiterhin; sie wird nur verdeckt. Und vielleicht ist wirklich alles sinnlos. Aber nur, weil etwas sinnlos ist, heißt es nicht, dass es nicht gleichzeitig auch schön sein kann. Und es steht uns jederzeit frei, das Schöne im Leben zu genießen. Mehr noch, wir müssen.

Das schulden wir uns selbst.